Die Lausitz erstreckt sich über die Grenzen von Brandenburg und Sachsen hinaus und schließt polnisches Territorium mit ein. „Wenn wir nur über die brandenburgische und sächsische Lausitz sprechen, haben wir nur einen 180 Grad Blick“, erklärt Klaus Freytag. Historisch gesehen war die Lausitz schon immer eine grenzüberschreitende Region, die eine Vielfalt an Identitäten, Sprachen und Lebensweisen beheimatet. Diese transnationale Dimension macht sie zu einer europäischen Region.
Für den Lausitzbeauftragten ergibt sich daraus eine besondere Verantwortung: „Für unsere aktuellen Transformationen ist die Betrachtung als europäische Modellregion wichtig, damit man mit den Nachbarn ins Gespräch kommt und sich gegenseitig mit einbezieht. Kohleausstieg und Klimaneutralität machen keinen Halt vor Landesgrenzen.“
Als EU-Modellregion würde die Lausitz mehr Sichtbarkeit auf europäischer Ebene erlangen und somit von einem verstärkten Austausch mit anderen Ländern profitieren. Angesichts ähnlicher Herausforderungen im Strukturwandel, wie dem Kohleausstieg, können länderübergreifende Partnerschaften von großem Nutzen sein. Die Lausitz kann von den Erfahrungen und Maßnahmen anderer Regionen lernen und gemeinsam nach Lösungen suchen, sei es in Bezug auf die Sicherung der Energieversorgung oder die Förderung nachhaltiger Mobilitätskonzepte.
Länderübergreifende Projekte gibt es bereits, beispielsweise die Partnerschaft zwischen Cottbus und Zielona Góra. Während es in der Lausitz in Bezug auf klimaneutrale Mobilität noch Herausforderungen gibt, hat Zielona Góra bereits große Fortschritte in diesem Bereich erzielt. Klaus Freytag erzählt: „Ich finde das bei jedem Besuch in der polnischen Großstadt wieder spannend, dass dort der öffentliche Nahverkehr schon fast ausschließlich elektrisch angetrieben wird. Davon können wir noch einiges lernen.“ Solche Erfahrungen sind elektrisierend und zeigen, dass der Austausch zwischen Regionen neue Perspektiven und Lösungsansätze hervorbringen kann. In Zukunft wird beispielsweise ein Austausch mit Estland im Fokus stehen.
Der Begriff "Europäische Modellregion" ist somit auch eine Anerkennung der gemeinschaftlichen Anstrengungen zur Bewältigung des Strukturwandels. Er spiegelt die Offenheit und Bereitschaft wider, über nationale Grenzen hinweg zu denken und zusammenzuarbeiten. Die Lausitz geht den Strukturwandel mit Mut und Innovationsgeist an. Der europäische Gedanke eröffnet dabei neue Chancen für Zusammenarbeit, Lernen und Unterstützung.
Klaus Freytag: „Leute von außen sehen manchmal alles durch eine andere Brille und bringen so nützliche Kritik mit ein. Diese Reflexion ist wichtig, um eingefahrene Muster zu durchbrechen. Warum sollten wir das Rad jedes Mal neu erfinden, wenn jemand in Spanien oder in Portugal oder sonst wo schon Ideen hatte, die uns weiterbringen? Dann sollten wir das tun.“
Doch hinter der „EU-Modellregion“ verbergen sich neben der allgemein-kulturellen Perspektive noch ganz andere Chancen. Vertreten werden sie von der Lausitzrunde, die Bürgervertreter*innen verschiedener Gebietskörperschaften länder- und parteiübergreifend vereint. Seit 2016 verfolgt sie entschlossen das Ziel, die Lausitz zu einer europäischen Modellregion zu entwickeln. Jüngste Entwicklungen auf EU-Ebene, wie die Bekanntgabe des Net-Zero Industry Act, rücken dieses Ziel jetzt in greifbare Nähe. Der Net-Zero Industry Act, auch Netto-Null-Industrie-Gesetz genannt, soll Regionen befähigen, neue Technologien schnell einzuführen und die Transformation voranzutreiben. Eine riesige Chance für die Lausitz. „Wir wollen weiterhin eine Energieregion bleiben, aber eben auf Basis erneuerbarer Energien. Deshalb war es wichtig, dass die Lausitz erkennt, dass sie sich den neuen Technologien öffnen muss“, erklärt Christine Herntier.
Die Bürgermeisterin war im Februar mit einer Delegation der Lausitzrunde in Brüssel, zwei Wochen nach Abschluss der Verhandlungen zum Netto-Null-Industrie-Gesetz. Bei EU-Kommissar Thierry Breton warb die Gruppe für die Lausitz als künftiges Net Zero Valley. Selbstbewusst stellten die Lausitzer dar, warum ihre Region wie maßgeschneidert dafür ist. Und das lief offenbar richtig gut! Das Feedback der Lausitzrunde: „Kommissar Breton zeigte sich von der Bewerbung und den vorgebrachten Ambitionen durch die Lausitzrunde beeindruckt und sicherte den Bürgermeistern seine aktive Unterstützung auch im Dialog mit Bund und Ländern zu, das erste Net-Zero Valley Deutschlands und Europas zu werden.“ Von da an ging es in „Brandenburggeschwindigkeit“ weiter: Noch im selben Monat wurden die Ministerpräsidenten Dr. Dietmar Woidke und Michael Kretschmer, sowie Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck informiert. Überall trifft das Vorhaben auf Unterstützung.
Die Lausitzrunde setzt sich seither aktiv dafür ein, dass die Lausitz als potenzielle Modellregion in Betracht gezogen wird. Durch Gespräche auf EU-Ebene und die Einbindung relevanter Akteure wie Wirtschaftsverbände, Kammern und Universitäten wird ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt, der die gesamte Region einschließt. Am 30. April setzten auch die Länder Brandenburg und Sachsen ein eindeutiges Zeichen. In einer gemeinsamen Pressemitteilung heißt es: „Die Länder befassen sich aktuell für die Lausitz und für weitere Regionen mit den Chancen, die dieses Gesetz zur Unterstützung der Strukturentwicklungs- und Transformationsprozesse schafft. Sachsen und Brandenburg beabsichtigen eine gemeinsame Bewerbung für ein europäisches Net Zero Valley. In den nächsten Wochen wird geprüft, welche Beiträge zu einer erfolgreichen Bewerbung der Lausitz als erstes europäisches Net Zero Valley geleistet werden können. Die Länder werden sich bei der Bundesregierung für eine zügige Umsetzung des Gesetzes in nationales Recht einsetzen. […] Sachsen und Brandenburg könnten damit eine Vorreiterrolle in Europa bei der grünen Transformation, dem Einsatz CO2-neutraler Technologien und dem Übergang zur Kreislauf- und Wasserstoffwirtschaft einnehmen.“
Der nächste Schritt in Richtung Modellregion ist ein Besuch des EU-Kommissars Thierry Breton am 17. Mai 2024. Er möchte tiefere Einblicke in den industriellen und digitalen Fortschritt der Lausitz gewinnen. Dafür wurde eine Veranstaltung im Industriepark Schwarze Pumpe organisiert, um die Stärken und Potenziale der Region zu präsentieren. Neben einem Austausch mit den Teilnehmenden aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften wurde ihm eine selbstbewusste Region voller Tatendrang gezeigt. Um das Vorhaben zu finalisieren, müssen sich die Länder beim Bund bewerben und der Bund muss diese Bewerbung bei der EU einreichen.
Wie der genaue Zeitrahmen für die Abstimmungen und die Realisierung des Net-Zero Industry Act aussieht, ist noch unklar. Aber eines ist sicher: Die Lausitz strebt nach einer Vorreiterrolle und wird alles daransetzen, diesen Weg konsequent zu verfolgen. Als potenzielle erste klimaneutrale EU-Modellregion würde die Lausitz eine wegweisende Rolle für den Strukturwandel in Europa einnehmen.